Okno
2019
experimental film
16mm transferred to HD-video, b/w, silent, 20 min.
Foto: Şirin Şimşek, Claus Daniel Herrmann
english version below
Überall Zeichen des Wandels, der Veränderung, des Zerfalls. Ein auffliegender Vogelschwarm über wehenden Blättern im herbstlichen Park, verwachsene Buchstaben, geritzt in die Rinde von Bäumen, lose Fetzen eines Werbeplakats, verfallene Kirchen und alternde Monumente. Das ganz Große und das ganz Kleine dienen in Judith Röders Film „Okno“ gleichermaßen als Zeugen vergangener Zeiten und tragen noch sichtbar die Spuren einer zurückliegenden Gegenwart in sich. Vieles, das sehr leicht zu übersehen wäre und sich erst durch Röders stumme, schwarzweiße und präzise komponierte Bilder sukzessive enthüllt.
Das Verrinnen der Zeit ist dabei nicht nur zentrales Thema der Aufnahmen, sondern auch Teil des Prozesses, der sie hervorbringt. Denn die Orte von Röders Aufnahmen werden nicht zielgerichtet angesteuert, sondern schlendernd und über Umwege gefunden, da sie nicht nur im Raum, sondern auch in einer jeweils spezifischen Zeit verortet sind. Sich ändernde Wetter- und Lichtverhältnisse, der Wechsel der Jahreszeiten aber auch die an- und abschwellende Dynamik der Stadt bedingen einen kontinuierlichen Wandel des Sichtbaren. Während Röder mit ihrem Stativ und einer Bolex 16mm-Kamera durch die Umgebung streift spürt sie diesen Veränderungen nach und ist gleichzeitig auf der Suche nach einer schwer vorhersagbaren Synchronizität zwischen äußerer Stimmung und innerer Verfasstheit, die es braucht, um ein Bild entstehen zu lassen, das sich dem permanenten Fluss vorbeirauschender Wahrnehmung widersetzt. Diese Momente umgibt etwas nicht Greifbares und Judith Röders filmische Arbeit lässt sich als eine unablässige Suche nach diesen flüchtigen Augenblicken beschreiben. „Das Geschehen, das unwiederbringlich ist, wiederholbar machen“, so beschreibt sie es selbst.
Für die Arbeit „Okno“ durchstreift sie die Stadt Breslau und ihre Umgebung, die aufgrund ihrer bewegten politischen Geschichte angefüllt ist mit Einschreibungen unterschiedlichster kultureller und politischer Provenienz. Wir lesen deutsche Schrift auf alten Grabsteinen und verwitterten Häuserwänden, sehen ein Denkmal aus sowjetischer Zeit, entdecken verfallene, vor langer Zeit aufgegebenen Kirchen, allesamt Relikte vergangener Ordnungs- und Bezugssysteme. Judith Röder wird zur filmischen Archivarin dieser Hinterlassenschaften, die sie einer visuellen Analyse und optische Bestandsaufnahme unterzieht. 
Wir erkennen in den Bildern Spuren von Überschreibungen, von Prozessen des Verdrängens, wir entdecken Brüche und die scheinbar widersprüchliche Koexistenz von unterschiedlichen Entitäten. Der Blick auf das Vergangene ermöglicht uns, in die Zukunft zu schauen und wir ahnen, dass das jetzt Vorherrschende einst zum Peripheren werden wird. Es ist ein ruhiger, fast schon zeitloser Blick, der mühelos über mehrere Jahrzehnte und Generationen schweift und das Gezeigte in seiner gegenwärtigen Aufgeregtheit relativiert.
Judith Röders filmische Poesie gewinnt eine ganz eigene Kraft durch ihre Gabe, vielfältige Risse, Überlagerungen und Aussparungen in der Umgebung aufzuspüren und diese mit der Kamera für uns sichtbar zu machen. Durch ihre intuitive, ganz den eigenen Rhythmen folgende Arbeit des filmischen „Aufnehmens“ wird spürbar, dass zu all den großen kulturellen und politischen Einschreibungen in der Umgebung äquivalente Strukturen im Inneren existieren und so entwirft „Okno“ das dokumentarische Portrait einer äußeren Landschaft, der eine innere entspricht. 
Daniel Burkhardt
Everywhere signs of change, transformation, decay. A flock of birds flying over blowing leaves in the autumnal park, overgrown letters carved into the bark of trees, loose shreds of an advertising poster, dilapidated churches and aging monuments. In Judith Röder's film "Okno", the very big and the very small serve equally as witnesses of past times and still visibly bear the traces of a past present. Many things that could easily be overlooked and only gradually reveal themselves through Röder's silent, black and white and precisely composed images.
The passing of time is not only the central theme of the photographs, but also part of the process that produces them. For the locations of Röder's photographs are not targeted, but rather found by strolling and taking detours, since they are not only located in space, but also in a specific time. Changing weather and light conditions, the change of seasons, but also the increasing and decreasing dynamics of the city cause a continuous change of the visible. While Röder roams the surroundings with her tripod and a Bolex 16mm camera, she traces these changes and at the same time searches for a synchronicity between external mood and inner state of mind that is difficult to predict and that is needed to create an image that resists the permanent flow of passing perceptions. Something intangible surrounds these moments, and Judith Röder's cinematic work can be described as a relentless search for these fleeting moments. "To make the event that is irretrievable repeatable," is how she describes it herself.
For the work "Okno" she roams the city of Wroclaw and its surroundings, which due to its eventful political history is filled with inscriptions of the most diverse cultural and political origins. We read German writing on old gravestones and weathered house walls, see a monument from Soviet times, discover dilapidated churches abandoned long ago, all relics of past systems of order and reference. Judith Röder becomes the cinematic archivist of these legacies, which she subjects to a visual analysis and optical inventory. 
We recognize in the images traces of overwriting, of processes of repression, we discover breaks and the seemingly contradictory coexistence of different entities. Looking at the past allows us to look into the future and we suspect that what is now dominant will one day become peripheral. It is a calm, almost timeless gaze that effortlessly wanders over several decades and generations, relativizing what is shown in its present excitement.
Judith Röder's cinematic poetry acquires a power of its own through her gift for tracking down diverse cracks, overlaps and gaps in the surroundings and making them visible to us with the camera. Through her intuitive work of cinematic "recording", which follows her own rhythms, it becomes tangible that there are structures within the environment that are equivalent to all the great cultural and political inscriptions in the surroundings. Thus "Okno" creates a documentary portrait of an outer landscape, which corresponds to an inner one. 
Daniel Burkhardt






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